Durch die Aufnahme in das internationale Kompendium der Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation ist die Gamessucht als "Gaming Disorder" offiziell anerkannt. Eine Entscheidung, der die Spielebranche und Industrieverbände mit scharfer Kritik begegnet. Anstatt in die üblichen Beißreflexe zu verfallen, sollte man diese Entscheidung eher begrüßen, da sie den Weg für mehr Forschung und Therapiemaßnahmem ebnet. Ein Kommentar von GamesMarkt-Redakteur Daniel Raumer.

Jüngst wurde die elfte Auflage der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) von der World Health Organization (WHO) ratifiziert. Darin hält die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf seit ihrer Gründung 1946 alle bekannten Krankheiten fest. Das Kompendium wird beständig erweitert, da neue Krankheitsbilder entdeckt und erforscht werden. Wie bereits im ersten Arbeitsentwurf vom Januar vorgesehen, hält in der elften Version hält nun erstmals die "Gaming Disorder"  in das Standardwerk. Gemeint ist die Sucht nach Videospielen, also der pathologische, übermäßige Konsum von Games. Wie bei anderen Abhängigkeiten kann sich diese in körperlichem und geistigem Verfall, Vernachlässigung von sozialen und gesellschaftlichen Verpflichtungen äußern, also Vereinsamung und Verwahrlosung.

Die Reaktionen aus der Gamesbranche auf den Entwurf ließen bereits bei der Vorlage des Entwurfs nicht lange auf sich warten. Nach wenigen Tagen  die Entertainment Software Association (ESA) los, größte Interessenvertretung der US-Spieleindustrie: Zwei Milliarden Menschen weltweit würden gerne Games konsumieren. Gesunder Menschenverstand und objektive Forschung bewiesen, dass diese Spiele nicht süchtig machen. Es handle sich gar um eine Verharmlosung echter Krankheiten. Die WHO solle gefälligst ihre Entscheidung überdenken, so ein offener Brief der ESA.

Jüngst schoss auch die deutsche Industrievereinigung scharf: Der WHO-Entscheidung fehle es an wissenschaftlicher Basis, erklärte game-Geschäftsführer Felix Falk,  mit GamesMarkt. Die Entscheidung sei falsch und führe zu einer Stigmatisierung der Nutzer von Games. Der Verbandschef geht sogar so weit, die Gefahr einer neuerlichen "Killerspiel"-Debatte heraufzubeschwören.

Natürlich ist es Kernaufgabe von Lobbyvereinigungen wie ESA und game, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Dass Hersteller von PC-, Video- oder Mobilegames ihre Produkte nicht gerne in die Nähe von Abhängigkeiten gerückt sein, liegt auf der Hand. In dieser Hinsicht sind die Reaktion von ESA , game-Verband und Industrie zwar logisch, ich persönlich halte sie Reaktion trotzdem für falsch. Sie ist der übliche Beißreflex auf Kritik am Medium.

Freilich machen Games nicht prinzipiell süchtig. Aber auch nicht jeder, der mal über den Durst trinkt, fällt sofort dem Alkohol anheim; nicht jeder, der einmal pro Woche einen Lottoschein ausfüllt, verwettet sofort Haus und Hof. Trotzdem sind Alkoholabhängigkeit und Glücksspielsucht anerkannte Krankheiten. Selbstverständlich haben Milliarden Menschen Spaß mit Videospielen, das bestreitet die WHO ja auch gar nicht, aber wie bei allen Genussmitteln gibt es einen kleinen Prozentsatz, dem der maßvolle Umgang misslingt, der süchtig wird. Die WHO fordert kein Verbot von Games, was ja auch gar nicht ihre Aufgabe wäre, aber eine Anerkennung als Krankheit ebnet den Weg für eine fundierte wissenschaftliche Erforschung. Auf lange Sicht ermöglicht das hierzulande auch die Anerkennung durch Krankenkassen und damit eine Kostenübernahme von Therapiemaßnahmen.

In Fachkreisen ist es übrigens weitestgehend unbestritten, dass es so etwas wie eine Gamessucht gibt. Nur ist umstritten, wie sie genau definiert und diagnostiziert werden kann und wie viele Menschen betroffen sein könnten. Ist sie Auslöser oder nur Symptom anderer psychischer Erkrankungen? Belastbare Studien, dass es sich dabei um eine pathologische Verhaltensstörung handelt, gibt es bisher offfenbar nicht. Die "Gaming Disorder" ist sozusagen eine wissenschaftliche Blackbox. Doch genau deshalb ist eine weitere wissenschaftliche Erforschung so wichtig! ESA sowie andere Vertreter der Spielebranche täten in meinen Augen gut daran, die Entscheidung der WHO vielmehr zu begrüßen. Die etwaigen Schattenseiten von Videospielen nicht einfach auszublenden, sondern eine nüchterne Auseinandersetzung mit der Thematik zu forcieren, ist weder Alarmismus, Schuldeingeständnis noch Bedrohung, sondern offenbart vor allem einen verantwortungsvollen und erwachsenen Umgang mit dem Medium - stumpfe Beißreflexe hingegen nicht.

Immerhin, bei den Konsequenzen der nun getroffenen WHO-Entscheidung zeigt sich, dass Herr Falk und ich dann doch wieder auf einer Wellenlänge sind: "Die Gesundheitspolitik sollte die jetzige Entscheidung als Anlass nehmen und deutlich mehr als bisher in die Forschung investieren. Wir brauchen belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse zur exzessiven Nutzung digitaler Medien. Das würde nicht nur helfen, weitere Fehlentscheidungen zu vermeiden, sondern vor allem auch die besten Therapie-Ansätze zu finden", so der game-Chef. In der Tat, eine nüchterne, ergebnisoffene Erforschung durch die Wissenschaft hat bis dato noch nie geschadet.

Daniel Raumer, Redakteur GamesMarkt

Hinweis: Diese Kolumne erschien in veränderter Form bereits in Januar in GamesMarkt 02/2018, also noch bevor die Aufnahme der "Gaming Disorder" in die ICD offiziell beschlossen wurde.

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