Chinesische Regulierung gegen Gamingsucht bei Jugendlichen wirkungslos
Eine internationale Studie anhand sieben Milliarden Stunden Spielzeit kommt zu dem Schluss, dass die Regulierungen der chinesischen Regierung gegen Videospielsucht bei Jugendlichen wirkungslos bleibt. Mögliche Gründe: Neben der Umgehung der Begrenzungen durch die Jugendlichen auch die zweifelhafte Implementierung der Gamesindustrie.
Eine aktuelle Studie diverser Forscher:innen aus unterschiedlichen Fachbereichen und Universitäten hat sich der Maßnahmen der chinesischen Regierung gegen Videospielsucht angenommen. Die Studie von David Zendle, Catherine Flick, Elena Gordon-Petrovskaya, Nick Ballou, Leon Y. Xiao und Anders Drachen ist unter dem Titel "No evidence that Chinese playtime mandates reduced heavy gaming in one segment of the video games industry" im Journal Natural Human Behaviour erschienen. Wie der Titel bereits ausdrückt, kommt die Studie zu einem kritischen Ergebnis. "Anhand von Telemetriedaten über mehr als sieben Milliarden Stunden Spielzeit, die von einem Interessenvertreter der Videospielindustrie zur Verfügung gestellt wurden, fanden wir keine glaubwürdigen Beweise für eine allgemeine Verringerung der Prävalenz von intensiver Spielzeit nach der Umsetzung der Regulierungen", so die Studie. Besagte Regulierungen wurden von der Regierung der Volksrepublik China im November 2019 eingeführt. Sie beschränken die tägliche Spielzeit für Spieler:innen unter 18 Jahren auf 1,5 Stunden Spielzeit und 3 Stunden an Feiertagen. Die gesetzlichen Altersverifikationen und Spielgrenzen werden von den Unternehmen umgesetzt und konnten mit Einverständnis der Eltern umgangen werden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Konten in einer bestimmten Woche viel spielen, stieg laut der Studie um das 1,14-fache, wobei die Forscher:innen diesen Anstieg nicht als bedenklich klassifizieren. Er liege stattdessen innerhalb voraussehbarer Schwankungen. Das bedeutet damit auch, dass die von der Regierung eingeführte Regelung keinen "Backfire"-Effekt ausgelöst hat. Die damit angegangenen Probleme in der Gesellschaft wurden also nicht gelöst, aber auch nicht verschlimmert. Eine solche ‘Nicht-Wirkung’ berge die Gefahr, dass keine tatsächlichen anderen Methoden zur Bekämpfung von Videospielsucht implementiert werden, da man den Problempunkt durch die Regulierung als erledigt sehe, selbst wenn dem statistisch nicht der Fall ist. Die Ergebnisse lassen laut der Forscher:innen Zweifel an der Effektivität jener staatlich kontrollierten Spielzeitvorgaben entstehen. Die Ergebnisse der Studie bleiben im Übrigen auch nach der 2021 durchgeführten Anpassung der Spielzeitregelung durch die Regierung robust.
Als Möglichkeiten, warum die Regulierung trotz Begrenzung der Spielzeit von Accounts jugendlicher Spieler:innen keine Wirkung zeigt, geben die Autor:innen verschiedene Gründe an. Zum einen vermuten sie, dass Eltern ihren Kindern durch Registrierung ihrer eigenen Daten erlauben, mehr zu spielen – ein Schlupfloch, dass die Regulierung durchaus zulässt. Zum anderen sehen sie Spieler:innen, die vor der Regulierung ohnehin bereits mit den Accounts ihrer Eltern verknüpft waren, mehr spielen als vor der Regulierung, und das möglicherweise aus Trotz oder Stolz, der Begrenzung entkommen zu sein. Eine andere Möglichkeit sehen die Autor:innen in der inkonsistenten Umsetzung der Regulierung bei unterschiedlichen Games-Anbietern, die keinen festen Prozess von der Regierung vorgegeben bekommen haben, sondern jeweils eigene Kontrollinstanzen implementieren. Eigenen Recherchen zufolge sollen sich große Unternehmen wie Tencent an gewissenhafte Altersverifikationen gehalten haben, wohl um besonderer Kontrolle vorzugreifen, während gerade kleinere Spiele-Anbieter unter dem Radar bleiben und daher mit laxeren Kontrollen durchkommen.
Leon Y. Xiao von der IT-Universität Kopenhagen betont die Bedeutung unabhängiger Forschung bei der Bewertung der Wirksamkeit von politischen Maßnahmen. "Angesichts früherer Behauptungen der chinesischen Industrie, dass diese Politik die ‘Videospielsucht gelöst’ habe, war es im chinesischen Kontext sinnvoll, eine Ausweitung auf andere Bereiche in Betracht zu ziehen. In der Tat berät die chinesische Regierung derzeit über eine gesetzliche Begrenzung der Bildschirmzeit bei Jugendlichen, wobei die Eltern diese Beschränkungen jedoch außer Kraft setzen können. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die potenzielle Wirksamkeit einer solchen Politik kontinuierlich überwacht werden muss, auch von unabhängigen, nicht der Industrie angehörenden Forschern."
Laut den Forscher:innen gehen die Auswirkungen der Studie über die Spielindustrie hinaus. Sie unterstreiche stattdessen den Wert der Nutzung umfangreicher Daten aus Online-Umgebungen wie Spielen und sozialen Medien, um politische Maßnahmen zu formen und zu bewerten. Professor Anders Drachen von der Universität von Süddänemark betont das Potenzial dieses datengestützten Ansatzes bei der Bewertung von Technologieregulierung: "Regierungen weltweit gehen manchmal davon aus, dass eine Politik funktioniert, ohne zu bewerten, ob sie sich tatsächlich auf das Verhalten ihrer Bürger oder Unternehmen auswirkt. Diese Forschung zeigt, dass wir im Zeitalter von Big Data Wege haben, diese Einschränkung zu überwinden."
Der leitende Forscher der Studie, Dr. Zendle, schlussfolgerte: "Die vorgestellte Arbeit ist eine Fallstudie, um zu verstehen, wie die politischen Entscheidungen einer Regierung das Leben echter Menschen in großem Maßstab beeinflussen - oder auch nicht - und bildet eine Blaupause für zukünftige datengestützte öffentliche Politik. Es ist jetzt möglich, Milliarden von Stunden direkter digitaler Verhaltensdaten auf nachvollziehbare Weise zu analysieren. Dies kann zu einer besseren und effektiveren Politikgestaltung führen. Regierungen, Interessenvertreter der Industrie und Wissenschaftler sollten sich dieser Herausforderung stellen."