"Paternoster-Prinzip"-Diskussion: Offener Brief von Stephan Reichart
Der in GamesMarkt 7/2015 veröffentlichte Beitrag von Prof. Dr. Malte Behrmann ("Das Paternoster-Prinzip") hat auf Facebook eine seit Tagen laufende Debatte ausgelöst, an der sich auch Stephan Reichart (Aruba Events) mit einem ausführlichen Kommentar beteiligt hat. Für GamesMarkt hat Reichart seine Einlassung noch einmal ergänzt und als "Offenen Brief an Euch" formuliert.
Letzten Mittwoch erschien die GamesMarkt-Ausgabe 7/2015, in der sich Prof. Dr. Malte Behrmann mit einem flammenden Zwischenruf ("") an die deutsche Gamesindustrie zu Wort meldete, die er sich zunehmend von der internationalen Signifikanz verabschieden sieht. Wenige Tage nach Erscheinen des Heftes hat die GamesMarkt-Redaktion den Beitrag von Malte Behrmann auch auf Facebook veröffentlicht. Kaum hatten wir ihn gepostet, ging eine Diskussion los, die bis heute anhält. In diese Diskussion schaltete sich schließlich auch Stephan Reichart, geschäftsführender Gesellschafter und Managing Director & Founder Aruba Events GmbH, mit einem sehr ausführlichen Kommentar ein, mit dem er den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung noch einmal in den Fokus rücken wollte. Für GamesMarkt hat er seine Einlassung noch einmal ergänzt und als "Offenen Brief an Euch" formuliert, den wir an dieser Stelle veröffentlichen.
Offener Brief an Euch!
Ich bin seit 2001 sehr gerne ein aktiver Bestandteil der deutschen Gamesbranche. Viele kennen mich vor allem in der Funktion des GAME Haupt-Geschäftsführers, die ich von 2004 bis Ende 2010 innehatte. Parallel dazu habe ich selber Spiele entwickelt, vor allem für RTL, und unsere Events aufgebaut, für die ich jetzt bekannt bin.
Während meiner aktiven Zeit im Verband, habe ich mit meinen Kollegen Malte Behrmann und Claas Oehler mit dem GAME Verband für jede Menge Wirbel in der deutschen Industrie gesorgt und wir haben wirklich viel für den deutschen Standort erreicht, z.B. die Anerkennung als Kulturgut, die Malte maßgeblich vorangetrieben hat, oder auch viele kleine Förderprogramme auf Landesebene, die Übernahme der USK durch GAME und den BIU und nicht zuletzt, ist auch der DCP in dieser Zeit entstanden.
Der GAME Verband war mir über viele Jahre eine sehr wichtige Herzensangelegenheit und auch heute bin ich noch ein großer Fan des Verbandes, weil dort viele Menschen engagiert mitgestalten, die ich persönlich sehr schätze.
Dass ich 2010 mein Amt niedergelegt habe, lag vor allem an den harten Turbulenzen, in die ich im Zuge der Wirtschaftskrise mit unserer Eventagentur geraten war, so dass ich mich voll und ganz auf Aruba konzentrieren musste und meine Arbeit und auch meine Aufgaben im Verband stark darunter gelitten haben.
Zu dieser Zeit habe ich unserem Vorstand empfohlen, den Verband sowohl inhaltlich und strukturell als auch finanziell neu aufzustellen, vor allem den Verband für die finanzkräftigen Onliner zu öffnen und auch Publisher als Mitglieder in den Verband aufzunehmen.
Ich war damals der festen Überzeugung, dass der GAME Verband die beste und glaubwürdigste Interessensvertretung für die deutsche Branche ist und hatte dem Vorstand daher empfohlen, die Geschäftsführung neu zu ordnen und auf eine Person zu konzentrieren, eine starke Geschäftsstelle aufzubauen und das "gute Geld der Onliner" vor allem in den Ausbau von Serviceleistungen zu investieren.
Aus Gründen, die ich im Detail vielleicht nicht alle kenne und daher auch nicht kommentieren werde, entschied man sich hier damals personell anders und setzte den inhaltlichen Schwerpunkt vor allem auf die politische Arbeit und Verbraucherschutz Themen.
Damit wurde aus meiner Sicht eine große Chance verpasst und die entstandene Dynamik aus 2011 schnell in die Hinterzimmer der Politik verbannt.
Die Arbeit des Verbandes fand in den Jahren danach fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die - aus meiner Sicht übrigens absolut richtige und sinnvolle - Initiative, den Verband mit dem BIU zu fusionieren, sogar lange Zeit unter Ausschluss der eigenen Mitglieder. Der Rest ist Geschichte und bekannt.
In der gerade vor allem auf Facebook stattfindenden Diskussion über den Artikel von Malte werden aus meiner Sicht zwei wichtige Dinge außer Acht gelassen:
Der GAME Verband hatte durchaus bereits die Chance viel mehr für den deutschen Standort zu erreichen, als er erreicht hat. Das dies nicht geschehen ist, lag eindeutig nicht an fehlenden Mitteln, sondern an den falschen inhaltlichen und strukturellen Entscheidungen und Schwerpunkten in den Jahren 2011 bis 2013.
Ob unser Standort sich entwickelt, liegt bei weitem nicht nur in den Händen der beiden Verbände, sondern vor allem in den Händen unserer Branche insgesamt. Und die ist nach wie vor zu 95% nicht aktiv in die Arbeit der beiden Verbände eingebunden. Denn unsere Branche besteht vor allem aus 15-20.000 aktiv in ihr arbeitenden und sie aktiv gestaltenden Mitarbeitern, nicht nur aus juristischen Personen.
Es ist aus meiner Sicht letztlich mittlerweile völlig egal, wer von beiden Verbänden genau was tut, denn Verbandsarbeit ist nur ein Aspekt unserer alltäglichen Probleme. Beide Verbände leisten zur Zeit vor allem eines: politische Arbeit. Und das machen sie beide gut, jeder auf seine Art, mit seinen Argumenten. Dem BIU fehlt das Argument der Kleinstunternehmen und der Kreativen, dem GAME das der großen Arbeitsplatzmotoren. Würden sie gemeinsam arbeiten und auftreten, würden sie viel effizienter auftreten und argumentieren können. In beiden Verbänden arbeiten gute Leute, die Vorstände sind jeweils mit erfahrenen und professionell denkenden Experten aus unserer Industrie besetzt, auch wenn man sich an dem ein oder anderen auch hervorragend reiben kann. Im Idealfall gäbe es also nach wie vor eine Fusion der Verbände mit der klaren Agenda, die Produktionsbedingungen in Deutschland im europäischen und weltweiten Vergleich deutlich zu stärken. Die Fusion ist m.E. aus persönlichen Befindlichkeiten aktuell nicht umzusetzen. Schade.
Aber einmal angenommen, man würde sich zusammenreißen und einen gemeinsamen, starken Verband aufbauen. Wodurch würde sich am Standort Deutschland wirklich etwas ändern? Durch ein besseres politisches Umfeld. Durch eine bundesweite Förderung, z.B. durch Steuererleichterungen und Technologieförderungen, nur dort liegen wirklich relevante Töpfe. Durch eine breite gesellschaftliche Debatte. Durch hervorragende Ausbildungseinrichtungen. Und sicher noch vieles mehr.
Kann das ein Verband alleine schaffen?
Nein.
Und damit komme ich zu meinem eigentlichen Anliegen: Ja, wir brauchen einen starken Verband, um in der Politik gehört zu werden und für viele juristische Herausforderungen, denen wir uns gemeinsam stellen sollten. Aber, wir als Industrie insgesamt sind mindestens genauso gefragt.
Sechs Punkte müssen sich mittelfristig in unserer Industrie verändern:
Wir brauchen eine Interessensvertretung, die neben der politischen Arbeit ganz pragmatische Hilfestellungen bietet. Sie muss sich zu 50% auf den deutschen Standort konzentrieren, aber mit genauso viel Energie auf die internationalen Märkte. Sie muss sich stark international ausrichten, international arbeiten und tagesaktuelle internationale - und natürlich auch nationale - Services anbieten. Unsere Branche arbeitet weltweit, wir brauchen Dienstleistungen, die uns dabei helfen: mit Kontakten, Know-how, Netzwerken und sinnvollen, echten wirtschaftlichen Hilfen; angefangen von Relocation Management über Mitarbeiterverträge, Ansprechpartner bei Vertriebsplattformen, faire Publishingverträge bis hin zu Messeauftritten und koordinierte regelmäßige Vertriebstouren in relevante Märkten. Konkrete Hilfe, um international zu arbeiten. Einfach zugänglich. Auf Anfrage. Jederzeit. So, dass es uns im Tagesgeschäft hilft. Wir haben hervorragende Kontakte zu den großen internationalen Publishern in Deutschland, nutzt diese aktiv. Schwarz-weiß-Denken und verharren in alten Feindbildern bringt uns insgesamt keinen Schritt weiter.
Wir brauchen ein Netzwerk, dass unsere Mitarbeiter nicht ausschließt, dass es uns erlaubt, Diskussionen, Meinungen, Stimmungen der gesamten deutschen Entwickler und Publisher-Branche abzubilden und nicht nur von 20-100 UnternehmerInnen/Führungskräften. Wissensvermittlung darf nicht nur auf GF-Ebene stattfinden oder in einem Management aus einigen Leuten, nein, wir müssen anfangen, uns wirklich als eine Branche zu sehen - und dazu gehören die Experten aus unseren Firmen natürlich auch. Wir müssen unsere Mitarbeiter zu aktiven Fürsprechern machen, sie einbinden, ernstnehmen und ihnen zuhören, ihnen Meinungen und Diskussionsbeiträge erlauben, sie dazu ermuntern, sich zu engagieren und auch konträre Meinungen auszuhalten. Unsere Branche ist stark genug, das zu tun. Es ist an der Zeit.
Wissen ist Macht. Klar. Aber Wissen ist vor allem ein Kapital, das wir einsetzen und investieren müssen. In die eigenen Mitarbeiter, in den Nachwuchs unserer Branche - und zwar aus allen Bereichen, also auch dem Publishing, Vertrieb, Marketing - in Joint Venture, in Weiterbildung usw. Je mehr Menschen von unseren Erfahrungen, unseren Fehlern unserem Know-how profitieren, umso stärker wird unsere Industrie insgesamt. Es ist ein Witz, wenn man sich ansieht, wie wenig Geld wir ausgeben, um in Deutschland Forschung und Ausbildung zu finanzieren. Es werden hier 2.6 Mrd. Euro umgesetzt, nach allen Zahlen die ich kenne, geben wir als Branche rund 400 bis 500.000 Euro für Lehrstühle oder Forschung an Hochschulen aus? Wie können wir uns auf der einen Seite über schlechte Ausbildungsqualität und Schwierigkeiten bei der Suche nach qualifizierten Mitarbeitern beschweren und uns dann so etwas erlauben? Das ist ehrlich gesagt eine echte Frechheit und steht uns nicht gut zu Gesicht. Wirtschaftlicher Erfolg bedingt Verantwortung. Soziale und gesellschaftliche. Punkt.
Wir brauchen aktive Unternehmer auf allen Ebenen, nicht nur auf der Ebene unserer Vorzeigunternehmen. Hört endlich auf, euch wegzuducken oder aus allem rauszuhalten. Engagiert euch, empört euch, mischt euch ein, seid laut und aktiv. Egal, ob ihr zu einem deutschen oder einem internationalen Unternehmen gehört. Nur wenn unsere Branche insgesamt wahrgenommen wird, werden sich Sachen schneller ändern. Und wenn ihr nicht in Verbänden aktiv sein wollt, dann schaut euch mal genau an, was Christopher Kassulke mit HandyGames alles auf die Beine stellt. HandyGames sponsert eine Handballmannschaft, veranstaltet Benefiztage, bei denen regelmäßig bis zu 50.000 Euro gesammelt werden uvm. Es gibt vielleicht eine Handvoll Unternehmen, die aus eigener Initiative etwas Ähnliches tun. Und das ist peinlich. Wenn es am Geld scheitert, dann nutzt eben euer Zeitbudget, haltet Vorträge, unterrichtet, engagiert euch bei sozialen Zwecken usw. Nichts zu tun, sorgt nur weiter dafür, dass die Gesellschaft und Politik nicht verstehen, was wir tun, und uns somit immer wieder leicht argumentativ aushebeln können.
Wenn wir wie andere Branchen behandelt werden wollen, müssen wir uns auch aktiv darum kümmern, so aufzutreten. Leider halten sich viel zu viele Leute in unserer Branche für Rockstars oder kultivieren ein Nerdleben, erwarten aber gleichzeitig, dass man ihnen Geld in den Rachen wirft, weil wir doch das coolste Zukunftsmedium schlechthin entwickeln und weltweit hunderte Milliarden damit verdient werden. Das ist naiv und funktioniert in Deutschland einfach nicht. Was funktioniert: Bodenständigkeit vom ersten Tag an, saubere kaufmännische Strukturen und dann die Erwartungshaltung derjenigen erfüllen, die ihr Geld sonst täglich zu 98% an die klassischen Industrien verleihen, dort investieren oder diese fördern. Nur wer begreift, dass es letztlich ausschließlich darum geht ernsthaft und seriös Geld zu verdienen, wird tatsächlich irgendwann erfolgreich seine Leidenschaft zum Beruf machen können. Seht euch z.B. erfolgreiche deutsche Unternehmen wie Astragon, Kalypso, Deck13, Daedalic, Yager oder auch Flaregames an. Nur wer kaufmännische Experten dabei hat - und das von Beginn an - der kann auch erfolgreich seine Firma aufbauen. Ausbildung in Deutschland muss viel stärker auch die kaufmännischen Aspekte unserer Branche vermitteln. 20 kreative Genies alleine reichen nun mal einfach nicht.
Werdet politisch. Sprecht eure Abgeordneten auf lokaler, Landes- oder Bundesebene an, fordert von euren gewählten Vertretern, sich mit euch zu beschäftigen. Die sollen euch ernst nehmen, ihr schafft Arbeitsplätze oder entwickelt fantastische Unterhaltung, ihr seid kreativ. Ihr seid etwas Besonderes, ihr seid wahnsinnig gut ausgebildet, ihr seid geniale Progger, Designer, Verkäufer, Presseleute, Netzwerker und vieles mehr: Ihr gehört ganz sicher zur Elite der Unterhaltungsbranche. Benehmt euch auch so selbstbewusst, fordert von Politikern, dass sie eure Firmen genauso besuchen, wie den Autozulieferer einen Kilometer entfernt und dass sie sich genauso für eure Situation zu interessieren haben, wie für die Belange der Einzelhändler um die Ecke. Glaubt mir, es ist wirklich einfach, auf diesen Ebenen Gehör zu finden und Sachen zu verändern. Aber ihr müsst es aktiv selbst tun, nicht nur nörgeln, dass sich ja keiner für euch interessiert. Lobbyarbeit funktioniert nicht nur auf Verbandsebene, Lobbyarbeit funktioniert am besten und glaubwürdigsten direkt vor Ort bei euch.
Nur wenn ein Umdenken bei euch, der eigentlichen Branche stattfindet, wird sich wirklich etwas verändern. Initiativen wie die Indie Arena, das Gametreff NRW und alle anderen Aktionen in München, Berlin und Hamburg sind ideal, um sich daran zu beteiligen, hinzugehen und mitzumachen. Ihr wisst, dass ich sowohl ein Fan von GAME bin als auch gerne bei den BIU Netzwerken mitmache. Aber: Beide Verbände müssen sich meines Erachtens auch endlich daran machen, sich für 99% der Branche insgesamt zu öffnen, also auch Modelle für Mitarbeiter, Freelancer und vielleicht sogar den Nachwuchs an den Unis, Akademien und privaten Einrichtungen zu finden und anzubieten. Sonst werden wir immer das Problem haben, dass alle Entscheidungen, Fortschritte und auch Diskussionen aus den berüchtigten Elfenbeintürmen heraus getroffen werden. Und somit an einem Großteil unserer Branche vorbeigehen, sowohl inhaltlich, als auch im Ergebnis, in der Kommunikation sowieso und erst recht auf der Ebene des Gemeinschaftsgefühls, das unsere Branche doch eigentlich zu so etwas Besonderem macht!
Also, echte Veränderung fängt im Kleinen an und entwickelt sich zu etwas Großem, wenn es von den Großen aufgenommen und unterstützt wird. Ohne es zu verbiegen und zu benutzen. In diesem Sinne: Mitmachen, verändern, loslegen.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Reichart, Geschäftsführender Gesellschafter und Managing Director & Founder Aruba Events GmbH